Wenn meine Uhr mich überrascht, ist sie kaputt.
Meine Uhr kann mich nur dann überraschen, wenn sie nicht die richtige Uhrzeit anzeigt. In diesem Fall ist sie kaputt. Anders herum ist es bei meiner Frau: Wenn sie mich nicht mehr überrascht, ist sie offensichtlich tot!
Der Unterschied zwischen einer Uhr und meiner Frau: Die Uhr ist zwar ein kompliziertes Instrument mit vielen kleinen Pendeln, Schrauben und Zahnrädern, deren Funktion ich nicht im Mindesten verstehe - aber sie ist vorhersehbar. Das Zusammenspiel all dieser Elemente dient allein dem Ziel, zu jeder Zeit einen genau vorhersehbaren Zustand der Zeiger zu erzeugen, nämlich die richtige Uhrzeit. Solange sie funktioniert, kann mich das Ergebnis nicht überraschen.
Menschen - und damit auch meine Frau - sind anders. Sie sind komplex, das heißt ihr Verhalten ist nicht vorhersehbar. Die Faktoren, die Einfluss auf unser Verhalten haben, sind so undurchsichtig, dass wir nie sicher vorhersehen können, wie ein Mensch reagiert - nicht einmal bei uns selbst.
Und genau diese Unterscheidung - komplex vs. kompliziert - kann uns auch im Berufsleben helfen, auf die richtige Weise an unsere Aufgaben heranzugehen.
Komplexe Aufgaben müssen anders angegangen werden als komplizierte!
Während komplizierte Aufgaben sich von fachlich kundigen Personen sehr detailliert planen und designen lassen - wie zum Beispiel das erwähnte Uhrwerk - werden komplexe Aufgaben niemals völlig planbar sein. Jeder Plan, den wir vorab entwerfen, wird fehlschlagen, denn komplexe Umfelder verhalten sich ja eben gerade nicht vorhersehbar.
Wir können uns also sicher sein, dass wir irgendwann im Laufe eines komplexen Projekts gezwungen sein werden, unseren Plan aufzugeben und zu improvisieren.
Ein detaillierter Plan, der jeden Schritt schon vorab genauestens beschreibt und zeitlich einordnet, wird nicht funktionieren. Nicht nur das, er wird vermutlich sogar schaden, weil er keinen Raum für die nötige Improvisation lässt.
Wir müssen aufhören, Überraschungen in komplexen Projekten als Planungsfehler zu sehen
Das Problem ist, dass in den meisten Unternehmen noch davon ausgegangen wird, dass auch für komplexe Projekte die Methoden funktionieren, die bei komplizierten Aufgaben anwendbar sind: eine solide Planung, in der Meilensteine, Budget und Personal über Monate, wenn nicht sogar Jahre festgezurrt sind.
Wenn dann Überraschungen im Projekt auftreten, wird dies als Fehler der Planung gesehen. Entsprechend wird versucht, die Auswirkungen zu minimieren und schnellstmöglich zum ursprünglichen Plan zurück zu kehren - auch wenn es vielleicht besser wäre, den Plan aufzugeben und einen neuen zu formulieren! Denn je größer die Planänderung, desto größer der Fehler!
Der richtige Umgang mit diesem Problem wäre aber ein anderer: Von vornherein davon ausgehen, dass es Überraschungen geben wird. So wie ich auch bei meiner Frau nicht damit rechne, dass sie immer genau das macht, was ich von ihr erwarte. Dann wäre unser gemeinsame Zeit sogar ziemlich langweilig.
In Unternehmen, die sich auf die Herausforderungen von komplexen Projekten eingestellt haben, wird daher anders geplant:
- Es gibt zunächst eine langfristige Grobplanung, in der nicht allzu detailliert festgelegt ist, wann man mit den jeweiligen Meilensteinen fertig sein will.
- Eine Detailplanung wird nur für einen überschaubaren, nahen Zeitraum angefertigt - so langfristig wie eben nötig.
- Um zu verhindern, dass unliebsame Überraschungen am Projektende auftreten, werden besonders riskante Projektaspekte frühzeitig in ersten Experimenten ausgetestet. Zum Beispiel durch erste Marketing-Tests mit der Zielgruppe, durch die Anfertigung von Clickdummys oder durch Design Thinking Prototypen, die mit der Zielgruppe getestet werden. So helfen die ersten Wochen des Projekts, die langfristige Planung deutlich zu verbessern.
- Es gibt regelmäßige, geplante Aktualisierungen der Langzeitplanung. Anpassungen sind nicht Fehler in der Planung, sondern normaler Teil der Arbeit. Das verhindert, dass aus den falschen Gründen am alten Plan festgehalten wird.
- Budgets und Personalkapazität werden im Zweifel etwas gepuffert.
- Der Fortschritt der Arbeit wird auf einem sinnvollen, nicht zu detaillierten Level getrackt, so dass Verzögerungen frühzeitig sichtbar und damit planbar werden.